Fragen und Antworten

Weshalb benötigt die Schweiz eine Ombudsstelle?

Aktuell werden in der Schweiz die Kinderrechte ungenügend angewendet und umgesetzt. Dieser Zustand muss verbessert werden. Dies bestätigt auch der Staatenbericht der Schweiz zur Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention. Nur wenn Kinder und Jugendliche kindgerechte rechtliche Verfahren erleben, können sie Resilienz aufbauen und in ihren oft schwierigen Lebenslagen Selbstwirksamkeit erfahren – was nachhaltig positive Folgen für ihr Leben hat. Die Ombudsstelle schliesst diese Lücke: Sie bietet Kindern rechtliche Beratung in kindgerechter Sprache und vermittelt zwischen ihnen und involvierten Fachpersonen. Die neue Ombudsstelle ist entsprechend die notwendige Ergänzung zu den bereits bestehenden kommunalen und kantonalen Ombudsstellen sowie zu den wichtigen psychosozialen Anlaufstellen, wie 147.ch für Jugendliche oder 143.ch für Erwachsene. 
 

Sollten nicht Fachpersonen vor Ort die Kinder- und Verfahrensrechte umsetzen?

Ja, und die Fachpersonen tun dies zunehmend. Eine Ombudsstelle wird nur dann benötigt, wenn die Kinder- und Verfahrensrechte nicht sichergestellt sind. In einer idealen Welt würde sich die Ombudsstelle selbst abschaffen. Leider ist eine gänzlich ideale Welt kaum erreichbar. Bis es soweit ist, unterstützt sie im Sinne eines lernenden Rechtssystems die Verbesserung der Anwendung und Umsetzung von Kinderrechten.

 

Wie funktioniert die Ombudsstelle?

Die Ombudsstelle ist eine Stelle für das Kind. Sie stärkt die Resilienz von Kindern und vermittelt ihnen Selbstwirksamkeit, das heisst sie erfahren, dass sie schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft und ohne anhaltende Beeinträchtigung erfolgreich bewältigen können. Nur so können Kinder und Jugendliche den Teufelskreis von Ohnmacht und Überforderung – in dem sie aufgrund schwieriger Lebensumstände oft gefangen sind – gestärkt verlassen. Konkret bedeutet das: Wenn ein Kind mit der Ombudsstelle Kontakt aufnimmt, findet eine rechtliche Beratung statt. Diese umfasst eine Analyse der Situation, kindgerechte Informationen und Empfehlungen an das Kind. Meist benötigt es mehrere Gespräche, jedoch immer mit derselben Ansprechperson. In Absprache mit dem Kind werden auch Empfehlungen an die zuständigen Bezugs- oder Fachpersonen abgegeben bzw. zwischen dem Kind und diesen vermittelt. Damit dies möglich ist, benötigt die Ombudsstelle zwingend das Auskunftsrecht, sodass die Fachperson vom Datenschutz entbunden wird. Zusätzlich kann auch eine Triage an spezialisierte Fachstellen vor Ort notwendig sein, beispielsweise an die Anlaufstelle Rassismus oder wenn die Opferhilfe ergänzend zur KESB involviert werden muss.

Die weitere Aufgabe der Ombudsstelle ist es, das Wissen und die Expertise bei Fachpersonen auszubauen. Das ist besonders wichtig, denn durch die kindgerechte Gestaltung von Verfahren sind die Entscheide und Massnahmen für die Betroffenen nachvollziehbar und deren Wirkung ist entsprechend nachhaltig. Diese Stärkung des Kindes durch die Sicherstellung von Kinderrechten bewirkt schliesslich einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen. Überdies können gesellschaftliche und finanzielle Folgeprobleme innerhalb der Gesellschaft vermieden werden. 

 

Kann eine nationale Ombudsstelle Kinder und Jugendliche lokal unterstützen?

Ja. Auf nationaler Ebene werden die Kinderrechte selbst sowie der Zugang zum Rechtssystem sichergestellt. Die Kinder- und Verfahrensrechte sind in der ganzen Schweiz dieselben. Den schweizweiten Zugang garantieren wir, indem wir sämtliche Landessprachen abdecken, Digital Natives dort abholen, wo sie sich befinden – zum Beispiel via Chat – und den Zugang zur Ombudsstelle barrierefrei gestalten. 

Die UN-Kinderrechte verlangen physischen Zugang zu Beratungsstellen. Als sie 1990 in Kraft traten, gab es allerdings noch keine digitalen Räume oder fortschrittliche Onlinekommunikation. Das hat sich bekanntlich rapide verändert. Es ist wichtig, dass wir am Puls der Jugend sind und die neuen technischen Möglichkeiten nutzen. So können wir mit einem zentralen Standort Kindern und Jugendlichen in der ganzen Schweiz niederschwellig Hilfe bieten.

Die nationale Ausgestaltung ist auch deshalb wichtig, weil viele Familiensituationen interkantonal sind –beispielsweise wenn die Mutter in Zürich und der Vater in Genf wohnt. Mit einem nationalen Ansatz erhalten interkantonale Fälle rasche und unkomplizierte Hilfe. Grundsätzlich ist es immer das Ziel unserer Beratung, nahestehende Bezugspersonen oder involvierte Fachpersonen am Wohnort des Kindes zu aktivieren.

 

Nimmt eine Ombudsstelle auch Beschwerden entgegen und führt eigene Beschwerdeverfahren? 

Nein. Dafür gibt es unser Rechtssystem mit den Instanzen der Rechtsprechung und den Rechtsvertretern und -vertreterinnen. Ein Gericht oder eine Behörde nimmt Beschwerden entgegen. Ist ein Beschwerdeverfahren notwendig, dann empfehlen wir dem Gericht oder der Behörde, für das Kind eine unentgeltliche Rechtsvertretung einzusetzen, welche dann auch das notwendige Akteneinsichtsrecht hat. Als Ombudsstelle agieren wir unabhängig, objektiv, allparteilich und transparent. Würden wir eigene Beschwerdeverfahren führen, müssten wir zwingend Partei ergreifen und könnten nicht mehr vermittelnd tätig sein. Wir stellen das Recht auf Gehör und Rechtsvertretung sicher, sind aber ganz klar und gewollt keine Instanz der Rechtsprechung. Für das Kind sind rasche Lösungen zentral und nicht das Führen von Rechtsverfahren, wenn diese durch Vermittlung vermieden werden können.

 

Die UNO schlägt vor, dass die Ombudsstelle Überwachungsaufgaben übernimmt und Ermittlungen durchführt. Wie beurteilen Sie diese Idee?

Genauso wie wir es ablehnen, dass die Ombudsstelle eigene Beschwerden führen kann, denken wir auch, dass die Überwachungs- und Ermittlungsaufgabe keine gute Idee ist. Erfolgreiche Vermittlung benötigt das Vertrauen der Kinder und Fachpersonen. Dieses steht im Widerspruch zu einer Überwachung und der Durchführung von Untersuchungen. Was wir hingegen als förderlich erachten, sind regelmässige Berichterstattungen an die Kantone, den Bund und das Parlament. Es sollen Handlungsempfehlungen erfolgen, wie Kinderrechte noch besser umgesetzt werden können. Auch hier im Sinne eines lernenden Rechtssystems.

 

In der Schweiz kommen jährlich rund 100’000 Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren in Berührung mit dem Rechtssystem. Wie und wo erfahren diese von der Existenz Ihrer Institution?

Auf unterschiedlichen Wegen. Einerseits finden die Kinder und Jugendlichen auf direktem Weg zu uns – via Internet und Telefon zum Beispiel. Oder wir werden von nahen Bezugspersonen oder Fachpersonen im Umfeld des Kindes empfohlen, beispielsweise von Grosseltern, Pflegefamilien, Beiständ:innen, Heimleiter:innen, Schulsozialarbeiter:innen oder Kinderärzt:innen. Oft werden uns auch Kinder und Jugendliche mittels Triage durch andere psychosoziale Anlaufstellen zugewiesen, wie beispielsweise 147 von Pro Juventute.

 

Der UN-Kinderrechtsausschuss hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Kinderrechtsausbildung als obligatorisches Modul in den schulischen Lehrplänen verankert sein müsse. Haben die Kinderrechte in der Schweiz einen schweren Stand?

Wir sind auch der Meinung, dass Kinderrechte in die obligatorische Ausbildung gehören. Entsprechend bedauern wir es, dass beim Lehrplan 21 die Chance verpasst wurde, das Lehren von Kinderrechten explizit in die Ausbildung aufzunehmen. Dass Kinder und Jugendliche ihre Rechte kennen, ist die Grundlage wirksamen Kindesschutzes. Nur Kinder, die ihre Rechte kennen, sind fähig, früh Hilfe zu holen. Wir zählen in der Schweiz auf den aktiven Einsatz von Begleit- und Fachpersonen, welche Kinder und Jugendliche kindgerecht über ihre Rechte informieren und sie auch auf die bestehenden Anlaufstellen, wie die Ombudsstelle, hinweisen.

 

Wo ist das Kindeswohl in der Schweiz besonders gefährdet? 

Besonders gefährdet sind Kinder dann, wenn sie sich in Systemen befinden, in denen sie in einer unterlegenen Position sind und sich nicht frühzeitig äussern oder sich Hilfe holen können. Dies ist vor allem der Fall, wenn sie physischer, psychischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt sind, sie vernachlässigt werden oder besondere Gefährdung im digitalen Raum erfahren. Sie sind in einem Teufelskreis gefangen. Nur durch gelebte Partizipation durch Fachpersonen ist es möglich, frühzeitig zu erfahren, dass Kinder gefährdet sind. Die Richter:innen oder die Behördenmitglieder können ohne Partizipation gar nicht im übergeordneten Kindesinteresse entscheiden. Genau deshalb ist das Recht auf Gehör so wichtig. Nur so schaffen die Kinder den Weg heraus aus der Ohnmacht.

 

Welches sind die von den Kindern geäusserten Hauptanliegen?

Sehr häufig erfolgen Meldungen im Bereich des Kindesschutzes. Hier geht es zum einen um Platzierungen – auch Um-oder Rückplatzierungen. Zum anderen stehen psychische, physische oder sexuelle Gewalterfahrungen oder Vernachlässigungen im Fokus. Des Weiteren erhalten wir oft Anrufe von Kindern, wenn es um Familienrecht geht. Insbesondere bei Scheidung und Trennung kommt das Besuchsrecht oder das Aufenthaltsbestimmungsrecht zum Zug. Eine Zunahme ist auch im Bereich Schulrecht zu spüren, wo Kinder und Jugendliche von Schulausschlüssen betroffen sind. Etwas weniger häufig sind Meldungen, welche das Jugendstrafrecht, das Strafrecht oder das Asyl- und Ausländerrecht betreffen.

 

Welches sind die vordringlichsten Anliegen aus Ihrer Sicht?

Wir wollen Kindern und Jugendlichen frühe Hilfe bieten, noch besser Prävention leisten, Eskalationen verhindern helfen und Kindeswohlgefährdungen abwenden. Das ist der Hauptfokus unserer Arbeit und die Motivation, uns täglich aufs Neue mit Herzblut für Kinderrechte zu engagieren.

 

Wie sehen Sie die Zukunft der Ombudsstelle für Kinderrechte?

Die private Stiftung, die im Januar 2021 den Dienst aufgenommen hat, ist die Übergangslösung bis hoffentlich spätestens Ende 2025. 2026 tritt die öffentlich-rechtliche Ombudsstelle an ihre Stelle. Die aktuelle Lösung garantiert Kindern und Jugendlichen sofortigen Schutz, indem sie verhindert, dass eine Lücke entsteht. Ebenfalls dient sie der fortlaufenden Verbesserung der Umsetzung von Kinderrechten in den nächsten fünf Jahren und stellt den Wissenstransfer zur zukünftigen Ombudsstelle sicher. Die Stiftung wird finanziert von Bund, verschiedenen Kantonen und von der Zürich Versicherung und Z Zurich Foundation sowie weiteren Förderstiftungen. Sie dient faktisch als Pilotprojekt und Modellvorhaben für die künftige öffentlich-rechtlich ausgestaltete Ombudsstelle, die ebenfalls national, unabhängig und mehrsprachig agieren wird – idealerweise mit zentral geführten Zweigstellen in den drei Landesteilen. Selbstverständlich wird auch bei der öffentlich-rechtlichen Ombudsstelle das Kind mit seinen Rechten im Zentrum stehen.

 

Wie muss man sich die Zusammenarbeit mit anderen Anlaufstellen vorstellen?

Die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz ist keine Einzelkämpferin, sondern schliesst eine Lücke im Netz der verschiedenen Anlauf- und Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche in Notsituationen in der Schweiz.

Viele Kinder wenden sich an die bekannte Kinder- und Jugendberatung 147 von Pro Juventute, deren Berater:innen rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, erreichbar sind. Sie fangen die Kinder auf, beruhigen sie und besprechen dann mit dem Kind, wie es seine Situation verbessern könnte.

Wenn es dabei um Rechtsfragen geht, werden die Kinder an die Ombudsstelle weiterverwiesen. So hat sich eine enge Zusammenarbeit mit Pro Juventute entwickelt.