«Kinder sind ganze Menschen» lautet der Titel der neusten Ausgabe des Magazins «undKinder» des Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI). Das Heft widmet sich dem Thema Partizipation und wir sind darin mit dem Gastbeitrag «Schutz des Kindes durch Partizipation» vertreten. Nachdem wir im letzten Blog auf Partizipation als Begriff und Prozess eingegangen sind, wollen wir uns in diesem Artikel mit dem übergeordneten Kindesinteresse befassen.
Unsere Vision ist, dass alle Kinder ein kindgerechtes Rechtssystem erfahren. In einem solchen werden sie mit Würde, Achtsamkeit, Respekt und Fairness behandelt. Zudem ist es für die Kinder verständlich und zuverlässig. Speziell ausgebildete Fachleute hören den Kindern zu, nehmen ihre Ansichten ernst und stellen sicher, dass ihre Interessen geschützt werden. So können die Kinder und Jugendlichen an Entscheidungen, die oft ihr ganzes weiteres Leben betreffen, aktiv mitwirken.
Das Mitwirken des Kindes bedeutet dabei nicht, dass seinem subjektivem Willen immer entsprochen werden kann. Denn manchmal steht dem subjektiven Willen des Kindes das sogenannte Kindesinteresse entgegen. Wie mit Interessenkonflikten in Verfahren umgegangen werden soll und was genau unter welchem Begriff zu verstehen ist, erläutern wir Ihnen in diesem Blog.
Kindeswille, Kindeswohl – übergeordnetes Kindesinteresse?
Im Zusammenhang mit Verfahren, die Kinder betreffen, fallen oft Begriffe wie Kindeswille, Kindeswohl, Kindesinteresse, übergeordnetes Kindesinteresse. Nicht immer ist klar, was damit gemeint ist.
- Der Kindeswille ist der subjektive Wille, den das Kind äussert («Ich möchte bei Mama leben.»).
- Das Kindeswohl bezeichnet einen Idealzustand, dessen Anspruchsniveau nach den Kriterien «ideal», «gut genug» oder «grenzwertig» definiert wird. Dabei geht es um die Sicherstellung aller Kinderrechte, auch des Rechts auf Äusserung des subjektiven Willens. Gemäss des UN-Kinderrechtsausschusses handelt es sich dabei um die ganzheitliche, also die körperliche, geistige, religiöse, moralische, psychische und soziale Entwicklung des Kindes.
- Im Kindesinteresse ist der Schutz des Kindeswohls. Es ist somit in seinem Interesse, dass sämtliche Kinderrechte sichergestellt sind.
Das Kindesinteresse kann seinem subjektiven Willen aber unter Umständen entgegenstehen. Entscheidungsträger:innen sind deshalb in der Pflicht, bei Interessenskonflikten zwischen Beteiligten, z.B. dem Staat oder den Eltern, die Interessen des Kindes vorrangig zu berücksichtigen, daher der Begriff Entscheid im übergeordneten Kindesinteresse.
Gerade in der Zusammenarbeit zwischen den diversen Fachpersonen, denen ein Kind in einem Verfahren begegnet, ist Begriffsschärfe wichtig. Alle Beteiligten müssen ein einheitliches Verständnis der Begriffe haben, um ihre Rolle wahrzunehmen und sie – zusammen mit den Zuständigkeiten – kindgerecht erklären zu können.
Damit die Entscheidungsträger:innen beim Gericht oder der KESB im übergeordneten Kindesinteresse entscheiden können, besprechen sie sich mit den Rechtsvertreter:innen des Kindes sowie den Beistandspersonen, die eine besonders exponierte Stellung einnehmen. Hier ist es wichtig, dass beide sich bewusst sind, welche Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung sie haben, und dass es nicht zu Überschneidungen kommt. Die Rechtsvertreter:in ist Partei des Kindes und hat die Aufgabe, seinen subjektiven Willen vor den Entscheidungsträger:innen zu vertreten. Die folgende Darstellung zeigt das schematisch auf.
Beratungsbeispiel – Kindesschutz
Fabio lebt im Heim. An den Wochenenden besucht der Achtjährige jeweils seine Mutter und ihre Familie, doch das ist oft keine schöne Zeit. Er wird von einem Familienmitglied regelmässig geschlagen. Oft ist Fabio auch sich selbst überlassen, er bekommt wenig zu essen. Eines Tages verletzt er sich beim Spielen auf der Kletterstange so stark, dass sein Knie eigentlich genäht werden müsste, doch ein Pflaster muss reichen. Irgendwann will der Junge am Wochenende lieber im Heim bleiben, am Freitag ist es ihm plötzlich immer übel. Zu einer seiner Betreuerinnen im Heim sagt er mehrmals, er wäre lieber tot, und er überlege sich, wie er das am besten anstellen könne. Die Betreuerin informiert daraufhin sowohl Fabios Beiständin als auch die KESB. Doch es geschieht nichts. Im Heim liegt ein Flyer mit der Telefonnummer der Ombudsstelle Kinderrechte auf. Fabio nimmt seinen Mut zusammen und ruft uns an.
Zu Beginn einer Beratung analysieren wir die Gesamtsituation von Fabio und versuchen anschliessend, die wichtigsten Personen ins Gespräch einzubinden. Nachdem Fabio sich bei uns gemeldet hat, haben wir ihm erklärt, welche Rechte er hat und welche Möglichkeiten es gibt, um seine Situation zu verbessern. Mit Fabios Zustimmung haben wir in vermittelnden Gesprächen mit der Beiständin und der KESB erreicht, dass die Besuche bei der Mutter nicht mehr bei ihr Zuhause und nur noch unter Aufsicht stattfinden.
In Fabios Fall wurden mehrere Rechte verletzt: sein Recht auf Gehör und Meinungsäusserung, sein Recht auf Information, auf ein fürsorgliches Zuhause, auf gewaltfreies Aufwachsen und auf physische Unversehrtheit. Indem wir von der Ombudsstelle für Kinderrechte Fabio über seine Rechte informiert und zwischen ihm und den involvierten Fachpersonen vermittelt haben, konnte verhindert werden, dass er sich selbst gefährdet; zudem wird er vor weiterer Gewalt und Verwahrlosung geschützt.
Wir beraten auch Fachpersonen
Haben Sie als Fachperson weiterführende Fragen zu dieser Thematik? Oder sind Sie gerade in ein Verfahren involviert, in welchem Kinderrechte, wie das Recht auf Gehör, nicht umgesetzt werden oder bei einem Interessenskonflikt nicht im übergeordneten Kindesinteresse entschieden wurde? Dann zögern Sie nicht, mit uns in Kontakt zu treten.
Mehr zum Thema Schutz der Kinder durch Partizipation erfahren Sie in unserem umfassenden Artikel, der in der neusten Ausgabe des Magazins «undKinder» des MMI – Marie Meierhofer Institut für das Kind erschienen ist.
Unser Flyer für Kinder und Jugendliche
Fachpersonen sind unter anderem Kinder- und Jugendbeauftragte, Beistandspersonen, KESB-Mitarbeiter:innen, Richter:innen, Staats- und Jugendanwält:innen, Rechtsvertreter:innen des Kindes, Opferhilfeberater:innen, Gutachter:innen, Mediator:innen, Therapeut:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Gefängnismitarbeiter:innen, Polizist:innen, Lehrer:innen, Migrationsfachpersonen, Mediziner:innen, Sportleiter:innen, Pflegeeltern oder Heimmitarbeiter:innen und viele weitere.
Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI)
Das Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) ist ein Fachinstitut für die frühe Kindheit. Es beschäftigt sich mit den Voraussetzungen gelingender sowie mit der Prävention problematischer Entwicklungsverläufe.
Das MMI vereint entwicklungspsychologisches, frühpädagogisches, familiensoziologisches Wissen und verbindet Praxis und Forschung in einer multi- und transdisziplinären Arbeitsweise.
Das MMI ist ein Assoziiertes Institut der Universität Zürich.