Kinderrechte bei Kriegsflüchtlingen

15. Juni 2022

Er ist medial allgegenwärtig: Der Krieg in der Ukraine. Und mit ihm die flüchtenden Menschen, die mit ihren Geschichten, Schicksalen und Traumata auch bei uns in der Schweiz Zuflucht suchen. Aus ihren sozialen und kulturellen Strukturen herausgerissen und ihrer Lebensgrundlage beraubt, befinden sich die Flüchtenden bei der Ankunft im Gastland in einem Zustand grosser Abhängigkeit. Die Gefahr von Diskriminierung oder gar krimineller Ausbeutung dieser Menschen ist daher gross. 

 

Gleiche Rechte für alle Kinder

Kriegsflüchtlinge erreichen die Schweiz aber nicht nur aus der Ukraine, sondern nach wie vor auch aus vielen anderen Teilen der Welt beispielsweise aus Afghanistan oder Syrie, um nur einige wenige Konfliktgebiete zu nennen. Und unter Kriegsflüchtlingen befinden sich stets sehr viele Kinder. Bei den Flüchtlingen aus der Ukraine macht der Anteil an Kindern 40 Prozent aus.  

Geflüchtete Kinder haben dieselben Rechte wie alle Kinder in der Schweiz. Neben der im Asylrecht geregelten Unterbringung und dem Kindesschutz bilden die Artikel 10, 22 und 38 der UN-Kinderrechtskonvention, die auch die Schweiz 1997 ratifiziert hat, die Grundlagen für die Rechte minderjähriger Flüchtlinge.

 

Kennen Sie die Rechte der Kinder?

In einem ersten Schritt ist für den Schutz und die Sicherheit der Kinder zu sorgen, die sich in einer extrem vulnerablen Situation befinden und vor Kindesentführung sowie physischer, psychischer und sexueller Gewalt geschützt werden müssen. Auch ihr Recht auf Gesundheit muss gewahrt werden, wobei die Abklärung von Traumatisierungen und eine adäquate psychologische Begleitung im Fokus stehen. Aber auch wir als Gesellschaft können traumatisierte Flüchtlinge, ob jung oder alt, in ihrem Genesungsprozess unterstützen, indem wir Verständnis und Geduld für diese Mitmenschen zeigen und sie nicht mit Erwartungen unsererseits belasten.  

Neben den Grundbedürfnissen der Sicherheit und Gesundheit ist es zentral, geflüchteten und somit entwurzelten Kindern wieder Stabilität zu geben, damit sie erneut Vertrauen in sich selbst und ihre Umgebung fassen können. Eine Basis dafür wird durch ein fürsorgliches Zuhause mit der Unterbringung in Familien gelegt. Gleichzeitig sind Privatsphäre und Rückzug im Familienkreis Grundbedürfnisse, die sowohl bei den Geflüchteten wie auch bei den Gastgebern gewahrt werden sollen. Eine gründliche Abklärung und Information der Gastfamilien ist daher zentral. Die Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie ist eine grosse Herausforderung und bedarf neben der finanziellen und psychosozialen Unterstützung auch eine Begleitung der Familien durch Fachpersonen.   

Genau wie Schweizer Kinder haben geflüchtete Kinder ein Recht auf Bildung. Im Vordergrund steht hierbei die rasche und unkomplizierte Einschulung der Flüchtlingskinder oder für ältere Minderjährige die Möglichkeit, eine Ausbildung absolvieren/weiterführen zu können. Aber auch das Recht auf Ruhe und Freizeit mit Integration in bestehende Freizeitangebote darf nicht vergessen werden. Kinder sind Kinder und brauchen verschiedenste Impulse, um sich gesund entwickeln zu können. 

Ebenso wichtig sind stabile und verlässliche Bindungen. Es muss daher das Ziel sein, auseinandergerissene Familien so rasch und unbürokratisch als möglich wieder zu vereinen. Im Fall der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit Schutzstatus S würde die Familienzusammenführung – aus Schweizer Sicht – kein Problem darstellen. Für vorläufig aufgenommene Personen aus anderen Teilen der Welt sind die Hürden für Familienzusammenführungen dagegen enorm und eine Erleichterung im Sinne der übergeordneten Interessen der Kinder sollte berücksichtigt werden. 

Nicht zuletzt muss das Recht der Kinder auf Partizipation und Anhörung gewahrt werden. Denn Kinder sind eigenständige Menschen und müssen die Möglichkeit haben, ihrem Alter und ihrer Reife entsprechend angehört zu werden.

 

Nicht nur in der Ukraine herrscht Krieg

Der Krieg in der Ukraine hat die breite Bevölkerung der westlichen Welt sehr betroffen und hilfsbereit gemacht. Dies zeigte sich in der schnellen und einfachen Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine in allen Ländern Europas. Diese Solidarität ist natürlich als durchweg positiv zu werten. Gleichzeitig haben aber die Kinder aus anderen Kriegsländern das Recht, im Sinne einer Nichtdiskriminierung gleich behandelt zu werden wie die geflüchteten Kinder aus der Ukraine. Auch dürfte die Lernkurve der Schweizer Behörden im Umgang mit Kriegsflüchtlingen aufgrund der schieren Anzahl von Gesuchen und der breiten gesellschaftlichen Diskussion in den Medien beachtlich sein. Unter diesem Aspekt kann die aktuelle Krise auch als eine Chance für alle zukünftigen Kriegsflüchtlinge gesehen werden.

 

Von der Nothilfe zur langfristigen Begleitung

Bei den Flüchtlingskindern aus der Ukraine liegt der Fokus derzeit noch bei grundlegenden oben erwähnten Massnahmen. Doch was passiert längerfristig mit diesen Kindern? Werden sie in ihre Heimat zurückkehren, sobald ein Friedensvertrag ausgehandelt und der Beschuss ihrer Städte und Dörfer eingestellt wird? Alle Geflüchteten aus der Ukraine, also auch die Kinder, haben in der Schweiz den Schutzstatus S erhalten. Dieser gewährt neben Unterkunft, medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung auch die uneingeschränkte Reisefreiheit, den Nachzug von Familienmitgliedern, den sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt und erlaubt die sofortige Einschulung der Kinder. So weit so gut. Aber der unbürokratische Schutzstatus S ist auf ein Jahr beschränkt und gilt als rückkehrorientierter Status. Das heisst, die Annahme ist, dass diese Flüchtlinge nach Kriegsende rasch wieder in ihre Heimat zurückkehren. Und damit wird für diese Gruppe von Flüchtlingen auch keine Gelder für die Integrationsförderung gesprochen. 

 

Wann entfällt der Schutzbedarf?

Ob eine solch rasche Rückkehr für die Flüchtlinge aus der Ukraine möglich ist, wird sich zeigen müssen. Rechtlich gesehen ist die Schweiz dazu verpflichtet, Kriegsflüchtlingen so lange Asyl zu gewähren bis der Schutzbedarf entfällt. Doch was ist darunter zu verstehen? Benötigen Einwohner der Ukraine keinen Schutz mehr, wenn der Krieg offiziell beendet wird? Wohl kaum. Viele wichtigen Strukturen im Land wurden und werden noch immer beschossen und zerstört. Ohne Transportwege, Spitäler, Schulen und die funktionierende Versorgung mit Wasser, Strom oder Telekommunikation können die Flüchtlinge nicht nach Hause zurückkehren. Und selbst wenn die Infrastruktur wieder aufgebaut ist, entfällt der Schutzbedarf für Kinder erst dann, wenn ihnen in ihrem eigenen Land die Kinderrechte sichergestellt werden können. Leider ist davon auszugehen, dass es mehrere Jahre dauern wird, bis dieser Zustand in der Ukraine wieder erreicht ist. Neben der Akuthilfe, die momentan geleistet wird, braucht es in der Schweiz also eine längerfristige Perspektive für den Umgang mit den ukrainischen Flüchtlingen. Je eher hier Strategien entwickelt und Massnahmen ergriffen werden, umso besser für alle insbesondere für die betroffenen Kinder.