Schutz durch Partizipation

3. Juli 2023

Jedes Jahr kommen über 100'000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz mit dem Rechtssystem in Berührung. Sie alle haben das Recht auf Partizipation. Und trotzdem geht dieses Recht viel zu oft vergessen, und die Kinder und Jugendlichen bleiben bei Entscheidungen ungehört. Unsere Kernaufgabe als unabhängige nationale Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz ist es daher, sicherzustellen, dass die Partizipation von den verantwortlichen Fachpersonen umgesetzt wird.

 

Was bedeutet Partizipation?

Teilhaben, mitwirken, dabei sein – das ist Partizipation. Im rechtlichen Kontext hält die UN-Kinderrechtskonvention in Artikel 12 fest, dass jedes Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese frei äussern darf und sie auch berücksichtigt werden muss. Zu diesem Zweck muss dem Kind Gelegenheit gegeben werden, direkt oder durch eine geeignete Vertretung angehört zu werden.

Das Recht auf Partizipation ist die Nabe im Rad der Kinderrechte. Das Kind hat das Recht, sich zu allen Lebensthemen und eigenen Rechten zu äussern, wie folgende Grafik veranschaulicht: 

Schutz durch Partitipation

Partizipation im Rechtssytem

Die Partizipation für Kinder sicherzustellen, ist ein komplexes Vorhaben. Daran sind viele (Fach-)Personen beteiligt, die alle aus ihrer Perspektive handeln. Umso wichtiger ist es, dass alle vom Gleichen sprechen, wenn es um Partizipation geht.

Im Rechtssystem bedeutet die Partizipation eines Kindes, dass es 

  • über seine Rechte informiert wird
  • angemessene Möglichkeiten des Zugangs zur Justiz erhält
  • in Verfahren, die das Kind betreffen, befragt und angehört wird

Dabei ist besonders wichtig, dass den Ansichten der Kinder in angemessener Weise Rechnung getragen wird, wobei ihre Entwicklungsstufe und alle etwaigen Kommunikationsschwierigkeiten berücksichtigt werden müssen. Nur so ist die Beteiligung sinnvoll. Kinder sind vollwertige Rechtssubjekte und müssen entsprechend ernst genommen werden.

Drei Arten von Partizipation

Partizipation als Prozess

In einem Rechtsverfahren muss Partizipation als Prozess verstanden werden. Der Informationsaustausch und Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen darf nicht als punktuelle Handlung zu verstehen sein. Natürlich ist die Anhörung des Kindes ein zentrales Element der Partizipation in jedem Verfahren und darum werden wir uns in einem weiteren Blog ausführlich der kindgerechten Anhörung widmen. Aber auch vor und nach der Anhörung müssen Kinder im Sinne der Partizipation informiert werden und involviert sein beziehungsweise bleiben. Nur so können sie nachvollziehen, wie ihre Ansichten und die der Erwachsenen berücksichtigt werden und welche Auswirkungen das wiederum auf das Ergebnis des Prozesses hat. 

 

Die richtige Balance zwischen Ohnmacht und Überforderung

Jedes Kind und jeder Rechtsfall ist anders. Wie stark ein junger Mensch in ein Verfahren eingebunden werden soll und kann, muss immer wieder neu eingeschätzt werden. Das folgende Stufenmodell mit seinen neun Schritte, von Stufe 1 (Instrumentalisierung) bis Stufe 9 (Selbstorganisation), verdeutlicht, wie anspruchsvoll Partizipation sein kann. Darum ist es zentral, das Kind mit seinen individuellen Fähigkeiten richtig einzuschätzen, um eine Unter- oder Überforderung zu verhindern.

Stufenmodell

Eine zu hohe Partizipationsstufe kann das Kind überfordern, weil es in seiner Entwicklung noch nicht diese Fähigkeit erlangt hat. Kinder sollen nicht mit Themen und Entscheidungen konfrontiert werden, die sie nicht bewältigen können. Wird die Partizipationsstufe hingegen zu tief angesetzt oder entfällt sie, kann das bei dem Kind ein Gefühl der Ohnmacht auslösen und zur Resignation führen. Die Fachpersonen sollen daher die für die Situation und das Kind richtige und höchstmögliche Partizipationsstufe wählen.

 

Falsche Schutzgedanken

Aus Schutzgedanken wird noch heute bei Kindern oft ganz auf Partizipation verzichtet: Man will sie nicht unnötig belasten. Aus der Resilienzforschung ist jedoch bekannt, dass genau das Gegenteil eintritt. Erfahren Kinder Selbstwirksamkeit und fühlen sie sich ernst genommen, dann werden sie in ihrer Resilienz gestärkt. Fühlen sich Kinder hingegen übergangen oder sogar manipuliert, besteht die Gefahr, dass sie sich zurückziehen, verschliessen oder opponieren, was zudem das ganze Verfahren verkomplizieren kann. Der grösste Schaden entsteht jedoch beim Kind selbst – mit nicht abschätzbaren Folgen.

 

Beratungsbeispiel – Schulrecht

Vlora, 14, wird in der Schule schon länger gemobbt. Sie wird gehänselt wegen ihrem Aussehen, getreten und geschubst, wenn keine Erwachsenen in der Nähe sind (etwa in der Turngarderobe oder bei Gruppenarbeiten im Vorraum). Sie hat versucht, mit der Lehrerin zu sprechen. Diese hat sie aber vertröstet und gesagt, es werde mit der Zeit schon besser. Die Klassenlehrerin thematisiert Vloras Situation in der Klassenstunde, das Mobbing hört aber nicht auf. Das Mädchen leidet sehr und fehlt öfter in der Schule.

Vloras Tante hat die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz kontaktiert. Wir haben dann mit der Jugendlichen einen Telefontermin vereinbart und sie über ihre Rechte aufgeklärt. Dabei haben wir ihr erklärt, wie sie partizipieren kann, und ihr vorgeschlagen, die Schulsozialarbeiterin zu kontaktieren. Sie soll ihr die Situation schildern und mit ihr besprechen, welche Massnahmen die Schule ergreifen und wie die Schule sie unterstützen kann. Die Schulsozialarbeiterin hat daraufhin mit der ganzen Klasse und der Lehrerin zum Thema Mobbing gearbeitet. Die Situation des Mädchens hat sich verbessert und die ganze Klasse hat davon profitiert. In Vloras Fall wurden mehrere Rechte nicht angewendet: die Partizipationsrechte auf Information und auf Gehör und Meinungsäusserung sowie auf gewaltfreies Aufwachsen, auf physische und psychische Unversehrtheit und das Recht auf Bildung. Die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz konnte weitere Gewalt und weiteres Mobbing verhindern. Doch nicht nur Vlora profitierte von unserer Unterstützung: Da ihre Geschichte weitere Lehrpersonen motivierte, das Thema Mobbing in ihren Klassen aufzugreifen, verbesserte sich auch die Situation anderer Kinder an ihrer Schule. Vloras Beispiel zeigt, dass jede Beratung mithilft, unser Rechtssystem Schritt für Schritt kindgerechter zu machen.

 

Fachpersonen in der Pflicht

Fachpersonen sind verpflichtet, die Rechte der Kinder umzusetzen. Haben Sie in Ihrem Beruf mit Kindern in Rechtsverfahren zu tun? Stellen Sie fest, dass Kinder ihre Rechte nicht wahrnehmen können, aber Sie selbst können diese Situation nicht ändern? Dann zeigen Sie den Kindern die Möglichkeit auf, sich an uns zu wenden!

Mehr zum Thema Schutz der Kinder durch Partizipation erfahren Sie in unserem umfassenden Artikel, der in der neusten Ausgabe des Magazins «undKinder» des MMI – Marie Meierhofer Institut für das Kind erschienen ist.