«Familie ist nicht immer Privatsache»

11. Dezember 2023

Foto: Marvin Zilm / 13 Photo

 

Kinderrechte werden verletzt? In einem demokratischen, fortschrittlichen und rechtsstaatlichen Land wie der Schweiz? Leider ja! Oft sind es falsche Schutzgedanken von mit der Erziehung betrauten Personen und Behörden, die einer konsequenten Umsetzung der Kinderrechte im Weg stehen. 

Unsere Geschäftsführerin Irène Inderbitzin sprach mit dem ElternMagazin Fritz+Fränzi über die Sorgen der Kinder, die sich bei uns, der nationalen Ombudsstelle für Kinderrechte, melden. Sie erklärt unter anderem, wie unsere Beratungen ablaufen, welche Aufgaben die Ombudsstelle übernimmt und was die Gründe für solche Kinderrechtsverletzungen sind. 

 

Die Sorgen der Kinder

Besonders häufig führen sogenannte Kampfscheidungen oder ausserfamiliäre Platzierungen im Rahmen von Kindesschutzverfahren zu Anrufen bei der Ombudsstelle für Kinderrechte. Die Kinder werden ungenügend informiert, nicht angehört und fühlen sich in diesen hochbelastenden Situationen übergangen und nicht ernst genommen.

Irène Inderbitzin schildert ein Beispiel: “Da war eine Jugendliche, die sich nach einer Odyssee durch verschiedene Heime meldete. Man hatte die Teenagerin fremdplatziert, ihre Mutter war psychisch erkrankt und konnte als Alleinerziehende nicht mehr für sie sorgen. Aber niemand hatte die Jugendliche je angehört oder gemeinsam mit ihr nach einer Lösung gesucht. Die Situation eskalierte und endete darin, dass sie wegen Suizidgefährdung in einem geschlossenen Heim landete. Primär hatte sie den Wunsch, der Mutter wieder nahe zu sein.” Durch die Vermittlung der Ombudsstelle konnte erreicht werden, dass die KESB den Fall neu aufrollte und das Mädchen zu einer Pflegefamilie in der Nähe der Mutter ziehen konnte. 

 

Anhörung: Standard statt Ausnahme

Traurig aber wahr: Bei Scheidungsverfahren werden in der Schweiz nur gerade 10 Prozent der Kinder vor Gericht angehört. Dabei geht es in solchen Verfahren für Kinder um einschneidende Entscheidungen bezüglich ihres künftigen Wohnortes oder dem Kontakt zu ihren primären Bezugspersonen. 

Auch wenn Eltern sich einig sind und sich im Guten scheiden, müssen Kinder die Möglichkeit haben, ihren Willen zu äussern. Es ist zentral, dass sie sich ernst genommen und miteinbezogen fühlen. Nur so können sie Selbstwirksamkeit erfahren und Resilienz für spätere Herausforderungen und Krisen entwickeln.

 

Versäumnisse im Rechtssystem

Neben den Rechten auf Information und Gehör wird es auch öfter versäumt, Kindern eine geeignete Rechtsvertretung zur Seite zu stellen, die im Verfahren den Willen des Kindes adäquat vertreten kann. Dies ist gerade bei Fremdplatzierungen für das Kind extrem wichtig, um sich nicht machtlos und abgeschoben zu fühlen. Hier stellen wir als Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz sicher, dass solche Versäumnisse nachgeholt werden, wenn uns Kinder kontaktieren und davon berichten. Langfristig muss es aber das Ziel sein, dass es gar nicht mehr zu solchen Situationen kommt.

 

Was wir tun – und was wir nicht tun

Wenn sich Kinder bei der Ombudsstelle melden, werden sie erst einmal in Ruhe angehört und ernst genommen. In einem kindgerechten Gespräch versuchen wir die Lage zu erfassen. Worum geht es? Wer ist involviert? Was belastet das Kind? Nach dieser Situationsanalyse zeigen wir Möglichkeiten auf, was das Kind selbst unternehmen kann und wie wir es unterstützen können. Nur wenn das Kind es wünscht, vermittelt die Ombudsstelle bei zuständigen Fachpersonen und gibt dort auch Empfehlungen ab. 

Als Ombudsstelle führen wir aber selbst keine Verfahren. Wir stellen nur sicher, dass das Kind Zugang zum Rechtssystem erhält, also dass die zuständigen Fachpersonen die Rechte der Kinder adäquat umsetzen.

 

Gründe für die Versäumnisse 

Aber warum kommt es denn überhaupt dazu, dass Kinderrechte gar nicht oder nur ungenügend umgesetzt werden? Zum einen führen Faktoren wie Personal- und Zeitmangel bei Behörden zu solchen Versäumnissen. Zum anderen hält sich die Überzeugung hartnäckig, dass Erwachsene am besten wissen, was gut für Kinder ist: 

“Meist steht dahinter der Wunsch, das Kind zu schützen. Man will es aus Konflikten raushalten. Aber Kinder merken früh, wenn etwas nicht stimmt. Hier stehen Erwachsene in der Verantwortung, sie altersgerecht zu informieren, statt sie ihren Ängsten zu überlassen”, erklärt Irène Inderbitzin. 

Kinder sind ganze Menschen. Sie wollen informiert sein, wissen, was als nächstes mit ihnen geschieht und jedem Kind muss die Möglichkeit offenstehen, sich zu äussern, seine Meinung und Wünsche kund zu tun, wenn es das möchte.

 

Kinderrechte gehen alle etwas an!

Nicht nur Fachpersonen können Kinder in ihren Rechten stärken. Auch als Privatperson kann man Kinder ermutigen, sich einzubringen, seine Meinung zu sagen und sich für seine Wünsche stark zu machen. Und es ist wichtig, aufmerksam zu sein – als Nachbarn, Lehrpersonen, Tagesväter, Vereinsleiter:innen. Bieten Sie Hilfe an, statt wegzuschauen, wenn ein Kind sich in einer schwierigen Situation befindet! Denn Familie ist eben nicht Privatsache, wenn es um das Wohl der Kinder geht. 

Das ganze Interview mit Irène Inderbitzin, das in der neusten Ausgabe des ElternMagazins Fritz+Fränzi erschienen ist, können Sie hier nachlesen.