„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Dieser allgemein gültige Lehrsatz von Albert Einstein lässt sich bestens auf die Situation der Rechtsverfahren anwenden, bei denen Kinder und Jugendliche betroffen sind.
Die Notwendigkeit neuer Ansätze für nachhaltige Lösungen hat der Kanton St. Gallen bereits im Jahr 2015 erkannt und seither ein wegweisendes Vorgehen verfolgt, aus dem Anfang Juni 2021 die Veröffentlichung der “Empfehlungen für kindgerechte Verfahren im Kanton St. Gallen” hervorging. Die freiwilligen Empfehlungen richten sich an Fachpersonen aus Behörden, Gerichten und Institutionen. Sie zeigen auf, wie Rechtsverfahren in St. Gallen kindgerecht durchgeführt werden können.
Wie in der ganzen Schweiz sind auch im Kanton St. Gallen jährlich zahlreiche Kinder und Jugendliche in rechtliche Verfahren involviert. Bei den familienrechtlichen Verfahren trifft dies auf drei Viertel aller Fälle zu. Des Weiteren unterliegen im Kanton St. Gallen jährlich 3’500 Kinder und Jugendliche Kindesschutz-Massnahmen der KESB. Mehrere tausend Minderjährige sind entweder in Strafverfahren verwickelt oder stehen in Kontakt mit der Polizei, der Jugend- oder Staatsanwaltschaften oder es laufen schulrechtliche oder Migrationsverfahren. Gesamtschweizerisch sind jährlich rund 100’000 Kinder von rechtlichen Verfahren betroffen.
Die Empfehlungen des Kantons St. Gallen basieren auf den Leitlinien des Ministerkomitees des Europarates für eine kindgerechte Justiz sowie auf der UN-Kinderrechtskonvention. Artikel 12 der Konvention fordert, dass Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden müssen.
Gut für Kinder, gut für den Kanton
Welche Motivation trieb den Kanton St. Gallen dazu an, sich während der letzten fünf Jahre und auch zukünftig mit dieser Thematik zu beschäftigen? Einerseits sollen die Empfehlungen Übersicht und Transparenz schaffen und hierbei insbesondere auch die Offenheit des Kantons gegenüber einer kindgerechten Justiz aufzeigen. Andererseits setzte sich der Kanton in seiner «Kindesschutz-Strategie» das Ziel, kindgerechte Verfahren zu fördern, um damit die Kinderrechte zu stärken. So wird ein besserer Schutz von Kindern und Jugendlichen erreicht und gesellschaftliche und finanzielle Folgeprobleme innerhalb des Kantons werden nach Möglichkeit vermieden.
Die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz begrüsst die “Kindesschutz-Strategie” des Kantons St. Gallen mit seinem Fokus auf Kinderrechte und bestärkt seine Empfehlungen. Der Kanton hat mit seinem Vorgehen wertvolle Arbeit geleistet. Die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz hat aus dem Beispiel von St. Gallen ein Vorgehen in 5-Phasen abgeleitet, das auch von weiteren Kantonen und Behörden als “Best Practice” verwendet werden kann.
In fünf Phasen zu einem kindgerechten Rechtssystem
Phase I – Initiierung: Überzeugung ist der erste Schritt
Entscheidungsträger:innen in Institutionen oder in politischen Ämtern erfahren in der ersten Phase eine Sensibilisierung für die Thematik. Ihnen wird klar, was zu einem kindgerechten Rechtssystem gehört und erkennen,
- dass Kinder durch eine Umsetzung kindgerechter Massnahmen wirksam geschützt werden und Selbstwirksamkeit lernen.
- dass Kinder als aktiv partizipierende Menschen gestärkt und mit wachsender Resilienz teils schwierigste Situationen meistern können und sich so zu problemlösungsfähigen Erwachsenen entwickeln.
- dass Kinder ihre Selbstwahrnehmung als Opfer verlassen können und die Erfahrung machen, nicht ohnmächtig zu sein.
- dass Kinder es wert sind, über Belange, die ihre Leben betreffen, informiert zu werden.
Diese Kinder und Jugendlichen reifen zu gestärkten Erwachsenen heran, die gelernt haben, Lösungen zu finden. Die Auswirkung auf die Gesellschaft ist aus gesundheitlicher, kriminologischer wie auch wirtschaftlicher Sicht nachhaltig positiv. Profitieren die Kinder und Jugendlichen eines Kantons, profitiert auch der Kanton. Hat dieses Ursache-Wirkungs-Prinzip genügend Stakeholders erreicht und überzeugt, kann die zweite Phase eingeleitet werden.
Phase II – Konzipierung: Wie sieht der Status Quo aus?
St. Gallen hat 2016 die 2. Phase eingeleitet. Mit seiner “Kindesschutz-Strategie 2016 bis 2020” hat der Kanton damit begonnen, kinderrechtskonforme Verfahren zu einem Themenschwerpunkt zu machen. Zunächst wurde die aktuelle Situation analysiert. Dazu wurde eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gebildet, die aus Fachpersonen folgender Institutionen bestand:
- Amt für Soziales (Leitung)
- Jugendanwaltschaft
- Jugenddienst der Kantonspolizei
- Kantonsgericht
- Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB)
- KESB-Aufsicht
- Präventivmedizin
- Rechtsdienst des Bildungsdepartements
- Staatsanwaltschaft
Diese Herangehensweise ist deshalb so fruchtbar und erfolgversprechend, weil so unterschiedliche Perspektiven und Anwendungsrealitäten in die Analyse einfliessen und dabei auch Schnittstellenprobleme aufgezeigt werden
Neben der Einbeziehung der unterschiedlichen Stakeholder ist auch die Einbettung der verschiedenen Rechtsgebiete von zentraler Bedeutung. Auch hier können wir das Beispiel St. Gallen als “Best Practice” empfehlen. Der Kanton hat bei der Bildung der Arbeitsgruppen folgende Rechtsgebiete abgedeckt:
- Kindesschutz
- Familienrecht (Trennung und Scheidung)
- Schulrecht
- Medizin
- Jugendstrafrecht (Opfer und Täter)
- Strafrecht (Opfer)
In dieser Zusammensetzung hat die Arbeitsgruppe unter der Leitung des Sozialamtes eine umfassende Ist-/Soll-Analyse der Situation der Kinderrechte im Kanton erstellt, und zwar vor, während und nach Verfahren. Dabei konnten die Lücken in den Bestimmungen der europäischen Leitlinien identifiziert werden. 2018 beschloss die Arbeitsgruppe, ergänzend zu den organisationsspezifischen Massnahmen gemeinsame Empfehlungen zu kindgerechten Verfahren für Behörden, Gerichte und Institutionen im Kanton St. Gallen zu erarbeiten.
Diese Phase war einerseits durch eine intensive Zusammenarbeit der unterschiedlichen Beteiligten gekennzeichnet, die mittels Fragenkatalogen detaillierte Zustände aufzeigen konnten, andererseits durch einen positiven interdisziplinären Austausch, der eine relevante und praxisnahe Anwendungsbereite ermöglichte. Ebenfalls konnten klare Verantwortlichkeiten identifiziert werden, sodass kein Thema unbeleuchtet blieb.
In St. Gallen wurde die Arbeitsgruppe von Beginn an vom Verein Kinderanwaltschaft Schweiz fachlich unterstützt wurde. Nach der Initiierung der Motion Ombudsstelle für Kinderrechte durch Ruedi Noser entschied sich Kinderanwaltschaft Schweiz, eine nationale Stiftung Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz (OSKR CH) zu gründen, die im Januar 2021 ihren Dienst aufnahm und als Übergangslösung bis zur Einführung der öffentlich-rechtlichen Ombudsstelle durch den Bund fungiert. Ermöglicht wurde die Stiftungsgründung durch die grosszügige Unterstützung der Zürich Versicherung und der Zürich Foundation. Der Bund und verschiedene Kantone, u.a. der Kanton St. Gallen, werden dieses Modellvorhaben/Pilotprojekt in den nächsten Jahren zusätzlich unterstützen, damit für Kinder und Jugendliche sowie Fachpersonen keine Lücke entsteht.
Wir als unabhängige privatrechtliche Stiftung ersetzen somit seit 2021 die Kinderanwaltschaft Schweiz hinsichtlich der Dienstleistungen für Fachpersonen und rechtliche Beratungen für Kinder und Jugendliche. Fortan erhalten Fachpersonen in Behörden, Gerichten, Ämtern, der Jugendstrafrechtspflege, der Staatsanwaltschaft, der Polizei, in Schulbehörden, von medizinischen Institutionen sowie weiteren von Kantonen kontrollierten und beauftragten Institutionen fachliche Unterstützung im Zusammenhang mit der Schaffung von kindgerechten Verfahren direkt von uns. Gerne unterstützen wir diese Stellen bei der Sensibilisierung der Stakeholder. Wir informieren allgemein sowie fallspezifisch und zeigen dabei nicht nur den Nutzen für Kinder und Jugendliche auf, sondern auch die Vorteile für den Kanton selbst. Dabei werden auch politische Akteur:innen verschiedentlich eingebunden. Überdies wird verschiedenen weiteren Bezugsgruppen die Wichtigkeit des Themas aufgezeigt.
Phase III - Kommunikation: Die Ziele sind definiert
Die durch die Arbeitsgruppe erarbeiteten Empfehlungen und Massnahmen werden konsolidiert und mit der Unterstützung durch den Regierungsrat über die Medien kommuniziert. Damit wird die 4. Phase eingeleitet.
Phase IV – Umsetzung: Learning by doing
Die Empfehlungen und Massnahmen werden mittels Folgeprojekten wie Fort- und Weiterbildungen sowie Entwicklung von Arbeitsinstrumenten verbreitet, damit die betroffenen Fachpersonen diese verankern und weitergeben können. Die Anwendung wird zur Routine.
Phase V – Verstetigung und Berichterstattung: Der Weg hat sich gelohnt
Die Umsetzungen werden in der täglichen Arbeit angewendet. Die Situation von Kindern und Jugendlichen hat sich stark verbessert. Die letzte Phase dient dazu, die Empfehlungen überall, wo sie nötig und sinnvoll sind, zu verankern, etwa in kantonalen Gesetzen oder Verordnungen. Fachpersonen reflektiven ihr Handeln regelmässig. Zusätzlich geben Rückmeldungen von Kindern wertvolle Hinweise und Informationen auf Bereiche, in denen noch Handlungsbedarf besteht. Hier übernimmt die Ombudsstelle Kinderrechte eine wichtige Funktion: Indem Kinder und Jugendliche aktiv durch Fachpersonen über ihre Rechte informiert und auf die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz aufmerksam gemacht werden, erhält die Ombudsstelle durch die Anrufe von Kindern und Jugendlichen wichtige Informationen darüber, wo die Umsetzung noch Lücken aufweist.
Die Datengrundlage dazu, wie oft und in welchen Belangen Kinder und Jugendliche unsere Beratungsleistungen in Anspruch nehmen, bildet eine starke Basis für die weitere praxisbezogene Analyse. Idealerweise findet dazu eine jährliche Berichterstattung an Regierungsrat und die Fachpersonen statt. Selbstverständlich ist diese vertraulich und dient ausschliesslich der Verbesserung der Anwendungspraxis.
Stärkung der Kinderrechte dient dem Schutz des Kindes
Dank der wichtigen finanziellen Unterstützung des Modellvorhabens/Pilotprojektes durch den Kanton St. Gallen ist es möglich, ihn mit unserer Expertise in den Phasen III bis IV eng zu begleiten und unsere Dienstleistungen allen Fachpersonen weiterhin zur Verfügung zu stellen. St. Gallen nimmt eine schweizweite Vorbildfunktion bezüglich Umsetzung von kindgerechter Justiz ein und ermöglicht es Kindern und Jugendlichen, durch aktive Teilnahme ihre Resilienz zu stärken.
Die langjährige Arbeit von Kinderanwaltschaft Schweiz hat die Bekanntheit und Akzeptanz der Leitlinien für eine kindgerechte Justiz des Europarates weit verbreitet. Basierend auf dieser Vorarbeit unterstützen wir von der Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz Fachpersonen sowie Politiker:innen bei der Umsetzung der Kinderrechte. Dies kann analog zu dem geschilderten Vorgehen in St. Gallen geschehen, oder aber mittels punktueller Beratung und Unterstützung.
Wenn Verfahren kindgerecht gestaltet werden, sind Entscheide und Massnahmen für die Betroffenen nachvollziehbar und deren Wirkung nachhaltiger.
Die Stärkung des Kindes durch die Sicherstellung von Kinderrechten bewirkt den Schutz von Kindern und Jugendlichen und schafft damit neue Lösungen für gesellschaftliche Probleme.