Nulltoleranz für erzieherische Gewalt an Kindern

15. Februar 2022

In der Schweiz erlebt eines von drei Kindern körperliche Gewalt im Rahmen einer «Erziehungsmassnahme». Erzieherische Gewalt an Kindern ist ein Ausdruck von Überforderung und oftmals persönlichen Traumata, welche die Eltern als Kinder selber erlitten haben. Solch einen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht Entwicklungsarbeit an sich selbst. Hierfür benötigt es zwingend und vermehrt Angebote für Eltern. Nur so kann eine nachhaltige Veränderung zum Wohl der Kinder überhaupt stattfinden. Auf gesellschaftlicher Ebene muss deshalb der Prävention Priorität zukommen.

 

Ist in der Schweiz Gewalt an Kindern nicht schon lange verboten? 

In der Tat wurde das Züchtigungsrecht bereits 1978 abgeschafft. Sogenannte «leichte» Gewalt, welche der «Erziehung dient», ist jedoch bis heute durch das Strafrecht nicht ausreichend erfasst. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts besagt, dass körperliche Züchtigungen innerhalb einer Familiensituation dann nicht als physische Gewalt zu betrachten seien, wenn sie ein gewisses gesellschaftlich akzeptiertes Mass nicht überschreiten und nicht allzu häufig wiederholt würden. Wie lässt sich das gesellschaftlich akzeptierte Mass beurteilen? Nährboden für Rechtsunsicherheit ist gegeben. 

Zusätzlich befinden sich von Gewalt betroffene Kinder heutzutage in der Situation, dass sie sich bei «milder Gewalt» nur mittels strafrechtlicher Bestimmungen gegen die erzieherische Gewalt wehren können. Während sie einen Loyalitätskonflikt erleben, da sie ihre Eltern in der Regel nicht bestraft wissen wollen, können urteilsunfähige Kinder selbst keinen Strafantrag stellen. Dies müssten die Erziehungsberechtigten machen. Da diese selbst die Täter:innen sind, ist das sehr unwahrscheinlich.

Nebst der physischen Gewalt sind zwei von drei Kindern in der Schweiz von psychischer erzieherischer Gewalt betroffen. Darunter wird verstanden, dass ein Kind behandelt wird, als wäre es wertlos, ungeliebt, ungewollt oder fehlerhaft. Aber auch Liebesentzug gehört zur psychischen Gewalt: wenn das Kind nur dann als geliebt betrachtet wird, solange es die Wünsche anderer erfüllt.

 

Eine Ohrfeige zur rechten Zeit hat noch niemandem geschadet

Diese Annahme ist immer noch weit verbreitet. Korrekt ist sie keinesfalls. Neurologische Studien zeigen, dass Körperstrafen bei Kindern die Hirnentwicklung negativ beeinflussen – aufgrund des emotionalen Stresses, den sie dadurch erleiden. Für Kinder ist das Erleben von Gewalt bedrohlich und existenziell. Sie sind als vulnerabelste Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Entwicklung vom Schutz und von der Fürsorge durch Erwachsene abhängig. Ausserdem ist es erwiesen, dass rund ein Viertel aller Kinder, die Gewalt erleiden, ebenfalls zu Täter:innen werden. Kinder lernen durch Vorbilder.

 

Wie kommen Kinder in der Schweiz zu ihrem Recht auf ein gewaltfreies Zuhause?

Nebst der Abschaffung des Züchtigungsrechts im Jahre 1978 hat die Schweiz 1997 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, wesentliche Standards zum Schutz des Kindes sicherzustellen. Es müssen alle geeigneten Gesetzgebungsmassnahmen getroffen werden, um das Kind vor jeglicher Gewalt in der Erziehung – sowohl körperlicher oder psychischer Art – in Form von Misshandlungen oder Vernachlässigung zu bewahren. Das Recht des Kindes auf Schutz ist somit gesetzlich verankert. Die Schweiz wurde wiederholt vom UN-Kinderrechtsausschuss gerügt, da die gewaltfreie Erziehung, wie oben erwähnt, nicht umgesetzt ist – zuletzt im Staatenberichtsverfahren 2021. 

Es braucht eine neue Lösung. Eine solche bietet die Motion für «Gewaltfreie Erziehung im ZGB für besseren Schutz von Kindern», die bereits vom Nationalrat angenommen und derzeit vor der Besprechung im Ständerat steht. 

Die Verankerung im ZGB bietet gleich mehrere Vorteile: 

  • Starke Signalwirkung: Ein klares Statement der Schweiz gegenüber den Kindern des Landes, dass Gewalt in der Erziehung nichts verloren hat. Ein Paradigmenwechsel kann stattfinden.
  • Der Artikel schafft eine Rechtsgrundlage für Richter:innen. Rechtsunsicherheit verschwindet. Das «gesellschaftlich akzeptierte Mass» wird zur Nulltoleranz.  
  • Keine Kriminalisierung der Eltern. Das Strafrecht kriminalisiert die Täter:innen. Ein zivilrechtlicher Artikel gibt Kindern die Möglichkeit, sich zu wehren, ohne dass die Bestrafung ihrer Eltern im Zentrum steht. 
  • Kantone erhalten Grundlage zur Schaffung von Angeboten, die betroffenen Eltern und Kindern Hilfestellung bieten, selber aus dem Teufelskreis von Gewalt auszubrechen. 
  • Das Umdenken in der Gesellschaft findet statt, und die Nulltoleranz kann sich etablieren. 

Ein Gespräch mit der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich hat gezeigt, dass Ärzt:innen oft Situationen erleben, wo sie gewaltbetroffene Kinder behandeln. Und obwohl die Gewalt klar erlebt wird, ist sie strafrechtlich nicht relevant. Derzeit haben die Ärzt:innen kaum Möglichkeiten hier zu helfen. Wenn gesetzlich jedoch klar ist, dass in der Schweiz jegliche Gewalt an Kindern verboten ist, gibt es eine objektive Orientierung. 

 

Hat sich diese Lösung in anderen Ländern bewährt? 

Schweden und Deutschland haben die gewaltfreie Erziehung bereits zivilrechtlich verankert. Es wurden durchwegs positive Erfahrungen gemacht. In Schweden sank der Anteil der Eltern, die Gewalt in der Erziehung anwenden, binnen 20 Jahren von 51 auf 8 Prozent. In Deutschland wurde zudem festgestellt, dass das Gesetz nicht nur eine kritische Einstellung gegenüber Gewalt fördert, sondern auch darauf sensibilisiert, was Gewalt in der Erziehung heisst.

 

Wie stehen wir zum neuen Gesetz?

In unseren Beratungen erleben wir immer wieder, dass Kinder, die von erzieherischer Gewalt betroffen sind, sehr loyal sind. Sie wollen natürlich, dass die Gewalt endet, aber sie wollen nicht ihre Eltern kriminalisieren. Wenn Kinder sich an uns wenden, beraten wir sie über ihre Rechte, nehmen Kontakt zu Fachpersonen vor Ort auf, triagieren die Fälle an spezialisierte Stellen und begleiten sie, bis vor Ort die erforderlichen Massnahmen getroffen werden, damit sie in einem sicheren Rahmen aufwachsen können. Die gesetzliche Verankerung stärkt die Position der Kinder - und unsere Handlungsoptionen diesbezüglich. Wir wollen in der Beratung zukünftig sagen können: «In der Schweiz ist dies verboten und du hast das Recht, keine Gewalt erleben zu müssen. Wir setzen uns für dich ein, dass dies auch beachtet wird, und du und deine Eltern Unterstützung erhaltet, damit die Gewalt endet.» Und wir wollen nicht mehr sagen müssen: «Es ist nicht in Ordnung, aber es ist im gesellschaftlichen Mass und strafrechtlich kann man da nichts machen.»

Nulltoleranz für erzieherische Gewalt ist eine gesellschaftliche Verpflichtung. Kinder brauchen die Unterstützung der ganzen Gesellschaft, damit ihr Recht auf ein fürsorgliches Zuhause, Schutz und Sicherheit und eine gewaltfreie Erziehung Wirklichkeit wird. Erzieherische und häusliche Gewalt sind nicht Privatsache.