Gewalterleben, psychosoziale Beeinträchtigung und professionelle Versorgung gewaltbetroffener Jugendlicher in der Schweiz

Von: David Lätsch, Dr. phil./Madlaina Stauffer, lic. phil. Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit

Stichwörter: Gewalt, Jugend, Kindesschutz, Opferhilfe, psychische Störungen, Verhaltensauffälligkeit, Versorgung, Versorgungsforschung, Viktimisierung

Zusammenfassung: Die Beziehungen zwischen der Lebensphase der Jugend und dem Phänomen der Gewalt sind seit Jahrzehnten ein stark beachtetes Thema in gesellschaftlichen Debatten, in Politik, Praxis und Wissenschaft. Beleuchtet wird vornehmlich die von Jugendlichen ausgeübte Gewalt, seltener werden Jugendliche als Opfer von Gewalt thematisiert. Der vorliegende Beitrag untersucht drei Fragen: Wie oft sind Jugendliche in der Schweiz von welchen Formen der Gewalt betroffen? Wie hängen unterschiedliche Formen des Gewalterlebens mit psychischer Beeinträchtigung und sozialer Auffälligkeit zusammen? Und: Welche Versorgungsleistungen nehmen gewaltbetroffene Jugendliche wie häufig in Anspruch? Die Untersuchung beschränkt sich auf die Altersgruppe der 15¬ bis 16¬Jährigen. Die ersten beiden Fragen werden anhand von Daten aus einer umfangreichen gesamtschweizerischen Erhebung, die dritte anhand einer explorativen Recherche beleuchtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass rund drei Viertel aller Jugendlichen in der Schweiz im letzten Jahr von mindestens einer Form der Gewalt betroffen waren. 13,4% berichten von Misshandlung oder Vernachlässigung im Elternhaus, 21,4% sind von sexueller Gewalt betroffen, 7,5% von schwerer sexueller Gewalt, 30,3% von emotionaler Gewalt. Die Zusammenhänge zwischen Gewalterleben und psychosozialer Beeinträchtigung sind ausgeprägt; dabei scheinen nicht einzelne Gewalterlebnisse für die Beeinträchtigung ausschlaggebend, sondern erst die Ansammlung unterschiedlicher Gewaltformen, die so genannte Mehrfachviktimisierung. Die aktuelle Datenlage zur psychosozialen Versorgung jugendlicher Gewaltopfer in der Schweiz verdient das Prädikat "ungenügend". Zwar gibt es in einigen wenigen Handlungsfeldern vorbildliche Initiativen, aber in wesentlichen Bereichen der Versorgung klaffen Lücken: Weder zu kindesschutzrechtlichen Massnahmen noch zu den Versorgungsleistungen der Opferhilfe liegen hinreichend aussagekräftige Daten vor, und ein Gleiches gilt für weitere wichtige Handlungsfelder wie die jugendpsychiatrische Versorgung, die ambulante und stationäre Jugendhilfe oder die Schulsozialarbeit. Eine wirksame und nachhaltige Steuerung der Prä¬vention und Intervention im Bereich jugendlichen Gewalterlebens wird erst möglich sein, wenn diese Lücken geschlossen werden. Dafür bedarf es erheblicher Anstrengungen durch Politik, Praxis und Wissenschaft.

ZKE 1/2016 Seite 1 ff.