BGE 146 III 203 – Verzicht auf Kindesanhörung: Vorweggenommene (antizipierte) Beweiswürdigung

Die Kindesanhhörung gemäss Art. 298 Abs. 1 ZPO findet von Amtes wegen statt. Bei Vorliegen entsprechender Anträge besteht «umso mehr eine Verpflichtung, die Anhörung durchzuführen (...). Das bedeutet nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass das Gericht auf eine Kindesanhörung nicht gestützt auf eine antizipierte Beweiswürdigung verzichten darf (...). Damit würde das Anliegen des Gesetzgebers unterlaufen, die Stellung des Kindes im Prozess zu stärken. Denn faktisch könnte die Kindesanhörung mit einer antizipierten Beweiswürdigung fast durchwegs ausgehebelt werden, ist doch gerade bei kleineren Kindern zu erwarten, dass sie sich zu beiden Eltern hingezogen fühlen, oft in einem Loyalitätskonflikt stehen und in aller Regel zu beiden Elternteilen Kontakt pflegen möchten.»

Dies gelte nicht für jede Ausprägung der antizipierten Beweiswürdigung. Die Überlegungen treten gemäss Bundesgericht dort in den Hintergrund, «wo das Gericht zum Schluss kommt, dass eine Anhörung des Kindes bei der gegebenen Ausgangslage überhaupt keinen Erkenntniswert hätte, allfällige Ergebnisse aus der Kindesanhörung mit Blick auf die Feststellung der konkret rechtserheblichen Tatsachen also von vornherein objektiv untauglich bzw. irrelevant sind (sog. unechte antizipierte Beweiswürdigung).»

Das Gericht müsse eine Kindesanhörung durchführen, sofern es nicht davon überzeugt ist, dass sie keinen Erkenntniswert haben wird. Somit muss eine Anhörung selbst bei erheblichen Zweifeln, ob dieses Beweismittel "etwas bringen wird", durchgeführt werden. Die zitierte Rechtsprechung, wonach auf eine Kindesanhörung nicht gestützt auf eine antizipierte Beweiswürdigung verzichtet werden darf, ist gemäss Bundesgericht in diesem Sinne zu präzisieren.

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